Eine Welt für sich: Das Berner Mattequartier

10. Februar 2017

Hans Peter Blum führt den kürzesten Smalltalk der Stadt. Genau dreissig Sekunden dauert ein Gespräch, und in jeder Sekunde überwindet man einen Höhenmeter. Blum bedient den Berner Mattelift, ein historischer Lift, der die Oberstadt mit dem Mattequartier verbindet.

Der Pensionär befördert Musiker und Kleingewerbler, Bundesräte und Kinogänger, Künstler und Touristen, und mit jedem Einheimischen hält er einen kleinen Schwatz über den Job, die Kinder, das Wetter. Den Fremden hingegen erzählt Blum gerne eine Kurzfassung der Legenden, die sich um die Matte ranken. Zum Beispiel, dass nachts ein weibliches Gespenst auf den 183 Stufen der Mattentreppe spukt. Oder dass irgendwo da unten ein Fass voller Gold vergraben ist.

Der Mattelift ist das faszinierendste Gefährt in Bern. Nicht nur, weil es bereits seit 115 Jahren in Betrieb ist und seine Metallkonstruktion von Alexandre Gustave Eiffel stammt, dem Erbauer des Eiffelturms. Sondern auch, weil es zwei Welten verbindet: Die prächtige Altstadt, die mit ihren Türmen, Brunnen und Patrizierhäusern zum UNESCO-Welterbe gehört, und das Mattequartier am Ufer der Aare.

Früher trennte nicht nur der Höhen-, sondern auch der Standesunterschied das Oben vom Unten. Denn oben wohnten die vornehmen Bürger der Stadt, während unten die Arbeiter und Handwerker in einfachen Fachwerkhäusern lebten. Ausserdem lag in der Matte der geschäftige Hafen und an der Badgasse reihten sich die öffentlichen Bäder, die nicht nur der Hygiene dienten, sondern auch allerlei anderen Vergnügungen. Als Casanova im Jahr 1760 Bern besuchte, war er jedenfalls besonders angetan von den hübschen Mädchen, die gegen Entgelt zu den Besuchern ins Wasser stiegen. Doch das ist lange her. Die Bäder und der Hafen sind längst verschwunden, und obwohl es noch immer einige Gewerbebetriebe in der Matte gibt, sind es heute vor allem Kaffees, Ateliers und kleine Läden, welche die lauschigen Plätze und niedrigen Laubengänge säumen.

900 Menschen benutzen täglich das Senkeltram, einer davon ist Peter Hafen. Er ist «Mätteler» aus Leidenschaft und gehört zu den wenigen, welche die fünfte Landessprache beherrschen. Denn auch wenn es kaum jemand weiss: In der Schweiz wird nicht nur Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch gesprochen, sondern eben auch «Mattenenglisch», oder «Matteänglisch», wie es im Dialekt heisst. «Nicht zu verwechseln mit dem Mattendialekt», sagt Hafen. Der Mattendialekt ist eine Form des Berndeutsch, aber mit französischen, italienischen und hebräischen Wörtern durchsetzt. Das Mattenenglisch hingegen ist eine Geheimsprache, die einst die Berner Flösser aus Hamburg mitbrachten. Vereinfacht gesagt werden beim Mattenenglisch die Silben vertauscht und den Worten stets ein «i» vor- und ein «e» nachgestellt. «So konnten sich die Mätteler miteinander unterhalten, ohne von Stadtbernern verstanden zu werden», sagt Hafen. «Das war praktisch, zum Beispiel, wenn man über Preise verhandelte.» Mit Englisch hingegen hat das Mattenenglisch nichts zu tun. Man vermutet, dass der Name von Bürgern der Stadt erfunden wurde, welche die Sprache nicht beherrschten. Denn in Bern nannte man früher alles, was man nicht verstand, ganz einfach «Englisch».

Peter Hafen ist der Präsident des Matteänglisch-Clubs. Etwa 350 Mitglieder hat sein Club, aber davon beherrschen längst nicht alle die Geheimsprache. In seiner Kindheit, erzählt Hafen, sei man von den Lehrern getadelt worden, wenn man Mattenenglisch gesprochen habe. «Das gehört sich nicht», hiess es damals, und die Sprache wäre um ein Haar ausgestorben.

Inzwischen aber interessieren sich wieder mehr Berner für dieses Kulturgut. Hafen führt jedes Jahr Einführungskurse in die Sprache durch. Und etwas freut ihn ganz besonders: «Ich kenne ein paar Familien, bei denen zu Hause nur Mattenenglisch gesprochen wird.»

Wenn Peter Hafen mit dem Senkeltram in die Matte hinunterfährt, wechselt auch er stets ein paar Worte mit Hans Peter Blum. In Berndeutsch, denn Blum spricht selber kein Mattenenglisch. Dafür legt er den Touristen in seiner Liftkabine gerne zwei Orte ans Herz, wo sie die beinahe vergessene Sprache entdecken können: Das traditionsreiche Restaurant Mülirad, in dem die letzten echten Mätteler ihren Stammtisch haben, an dem manchmal noch Mattenenglisch gesprochen wird. Und das Haus an der Schifflaube 34. Dort ist nämlich eine Tafel in den Boden eingelassen, auf der ein Satz in schönstem Mattenenglisch prangt. Der Musiker und Mätteler Res Margot hat sie erschaffen, und sie bezieht sich auf die Legende vom Goldschatz.

Die zahlreichen Goldschmiede der Matte, so heisst es, hätten im Jahr 1798 im Quartier ein Fass voller Goldstücke vergraben, damit sie nicht den napoleonischen Truppen in die Hände fallen. Dieses Fass wurde nie wieder gefunden. Als das Bauamt von Bern dann vor einiger Zeit den Asphalt an der Schifflaube dreimal hintereinander aufriss, spasste Margot mit dem eigenen Humor der Mätteler, die Stadt suche wohl noch immer nach dem Schatz. «Iehe ische ds‘Issfe itme ide ludge-icklischte idne irve-ibegre!» steht seither auf der Tafel vor seinem Atelier zu lesen: «Hier ist das Fass mit den Goldstückchen nicht vergraben.»